Marktplatz Szamocin (Wikimedia Commons)

Samotschin (Szamocin)

53°01’46.1″N 17°07’24.1″E

Ausschnitt aus der Postkarte Nr. 916 an Betty Frankenstein (DLA Marbach, Bestand A:Toller, Zugangsnr. 62.199/62)

Am 28. Juni 1930 schickte Ernst Toller – er befand sich gerade auf der Rückreise vom PEN-Kongress in Warschau über Krakau nach Deutschland – eine Postkarte  aus Samotschin, seinem Geburtsort, an Betty Frankenstein in Berlin. „Hier liegt die Schuld“, heißt es kurz und knapp auf der Rückseite der Postkarte (Nr. 916), auf deren Vorderseite eine Häuserfront (am Marktplatz?) und Pferdekutschen abgebildet sind. Worauf Toller sich mit diesen Worten bezog, verstand die Freundin sicher – wir können darüber nur mutmaßen (und uns an die Schilderung des Todes des Vaters erinnern, der seinem Sohn auf dem Sterbebett vorgeworfen hatte „Ihr seid schuld […] Du bist schuld.“[1]).

Der Name der Kleinstadt schreibt sich heute Szamocin, sie liegt in der Woiwodschaft Großpolen und zählt etwa 7500 EinwohnerInnen (davon 2000 in zur Stadt gehörenden Außendörfern). Zu Tollers Zeit war der Ort Teil des preußischen Großherzogtums Posen, „eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den Ton angaben.“[2] Samotschin war Ende des 19. Jahrhunderts noch wesentlich kleiner und zählte 1905 gerade einmal 2005 EinwohnerInnen.[3] „Von den Einwohnern waren 1294 evangelisch, 12 reformiert, 515 katholisch, 164 jüdisch, der Muttersprache nach 1954 deutsch und 51 polnisch.“[4] Trotz der relativ geringen Größe (eine Auswanderungswelle nach Amerika in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts tat das ihrige dazu)[5] war der Ort wirtschaftlich keineswegs unbedeutend. 1831 wurde hier eine Dampfmaschine – die erste in der Provinz Posen – in Betrieb genommen. Bis zu einer Brandkatastrophe im Jahr 1840 florierte die Tuchfabrikation, auch für den Holz- und Getreidehandel lag Samotschin günstig. Die Stadtchronik legt nahe, dass Isaak Cohn, der Vater von Tollers Mutter Ida, 1837 Mitinhaber des ersten Getreidegeschäfts der Stadt war.[6] Der Mitinhaber, Julius Seligsohn ließ in den 1850er Jahren die ersten Getreidespeicher errichten. Einer davon war Ida Tollers Mitgift, später ging er an Tollers Bruder Heinrich über. Es ist der einzige der alten Samotschiner Getreidespeicher, der bis heute an der Ulica Kościelna erhalten geblieben ist.

Charlotte (Ida) Cohns Vater Isaak – Ernst Tollers Großvater – war nicht nur Kaufmann und Fabriksbesitzer, sondern auch Stadtverordneter. Als er 1905 nach Berlin übersiedelte, „schenkte er seiner Geburtsstadt den Betrag von 1000 Mark als Grundstock für die Einrichtung eines städtischen Krankenhauses“, das Kranke unabhängig von ihrer Konfession aufnehmen und behandeln sollte.[7] Als Mendel (Max) Toller seine Geschäfte als Kaufmann nach Samotschin führten, lernte er Ida Cohn kennen, 1885 heirateten die beiden. Ida bekam den Getreidespeicher ihres Vaters, Max übernahm einen Laden am Markt, direkt daneben wohnte die Familie in einem geräumigen Haus. „Im Erdgeschoß richtete er [Max Toller] ein kleines Gasthaus ein. Hier kehrten nicht nur die Einwohner der Stadt ein, sondern auch – oder vorwiegend – Kaufleute und Händler, die zu den Wochen- und Jahrmärkten nach Samotschin kamen. Hinter dem Haus baute Max Toller noch einen Ausspann für die Pferde der Gäste.“[8] Als Ernst Toller am 1. Dezember 1893 in diesem Haus am Marktplatz zur Welt kam, wurde er also in eine geschäftstüchtige und wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren.

Die Jahre seines Aufwachsens, das geprägt war von der für Samotschin typischen konfessionellen Vielfalt vor dem Ersten Weltkrieg, schildert Toller in seiner Autobiographie Eine Jugend in Deutschland. Sein weiterer Lebensweg ist bekannt. Nach dem Tod des Vaters 1911 übernahm Ernsts Bruder Heinrich, der in Berlin zum Kaufmann ausgebildet wurde, die Getreidehandlung; die Mutter Ida führte zunächst das Geschäft weiter, übersiedelte aber bald zu ihrer Tochter Hertha nach Landsberg an der Warthe. Auch Heinrich verließ die Stadt. Als Ernst Toller 1930 also Station an seinem Geburtsort machte, war das Grab seines Vaters das einzige, was hier noch an die Familie Toller erinnerte.

Am 21. Juli 2009 wurde, nach langjährigen Bemühungen, v. a. von Klaus Steinkamp, im Zuge eines Festakts mit Bürgermeister Eugeniusz Kucner und zahlreichen Ehrengästen eine Gedenktafel am Geburtshaus Ernst Tollers (Rynek 10) enthüllt.

Gedenktafel am Geburtshaus Ernst Tollers (Foto: Klaus Steinkamp)

Irene Zanol, 29.4.2020


[1] Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 3: Autobiographisches und Justizkritik. Hg. von Stefan Neuhaus und Rolf Selbmann. Göttingen: Wallstein 2015, S. 122.

[2] Ebd., S. 105.

[3] Vgl. Maria Piosik: Ernst Tollers Kindheit und Jugendjahre in Polen (1893-1912). In: Thorsten Unger und Maria Wojtczak (Hg.): Ernst Tollers Geburtsort Samotschin. Würzburg, 2001 (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, 3), S. 17-50, hier S. 27.

[4] Friedrich Ebert: Verwaltungsbericht der Stadt Samotschin für das Jahr 1905. Hg. von Hermann Knauthe. Samotschin, 1906, zit. nach Piosik 2001, S. 27.

[5] Vgl. Piosik 2001, S. 26.

[6] Vgl. Ebd.

[7] Vgl. Ebd., S. 30.

[8] Ebd., S. 31.