Hotel San Domenico, Taormina
Hotel San Domenico, Taormina

Taormina, Sizilien

37°51’23.7″N 15°17’21.8″E

„Weiland Mitglied der Münchner Räte-Republik … und weiland Seine Königliche Hoheit“ – Über eine Zufallsbegegnung Tollers in Sizilien

Ende März 1928, Ernst Toller hatte sich gerade von einer „dumme[n] Grippe“ (Brief Nr. 702)[1] erholt, reiste er von Berlin aus nach Tirol. Nach einigen Tagen Aufenthalt in Kufstein führte ihn sein Weg weiter nach Italien. Auf dem Schiff von Neapel nach Palermo traf er Fritz Landshoff und Hermann Kesten, mit denen er die Reise Richtung Tripolis  fortsetzte.[2]

„Deshalb fuhren wir […] mit dem Nachtdampfer nach Palermo weiter, wobei sich zu Regen und Kälte ein bösartiger Sturm gesellte, der mich im verzweifelten Kampf gegen die Seekrankheit zum Aufenthalt an Deck zwang“, berichtet Fritz Landshoff. „Auf dieser trostlosen Wanderung stand ich plötzlich meinem Autor Ernst Toller gegenüber, der sich in ähnlichem Zustand befand. Er war allein auf Reisen und schien über dies zufällige Treffen nicht weniger freudig überrascht als ich. […] Kesten stieß zu uns, und wir vereinbarten, gemeinsam weiterzureisen. Palermo zeigte sich uns mit wesentlich angenehmerem Wetter. Trotzdem beschlossen wir, den Zug nach dem Süden fortzusetzen, und waren am nächsten Tag in Tripolis.“[3] Über die Reise in die Provinz Libyen, die seit den Italienisch-Türkischen Kriegen 1911/12 faktisch unter italienischer (und also faschistischer) Oberherrschaft stand, schrieb Toller eine Reportage, die unter dem Titel Ordnung muss sein 1928 im Tage-Buch erschien.[4]

Während der gesamten Reise wurden Toller und sein(e) Begleiter beschattet. Landshoff berichtet, „daß – wo immer wir uns aufhielten – zwei Herren auftauchten, die ein größeres Interesse für unseren Tagesablauf zeigten, als uns normal schien. Toller, dem unzweifelhaft die Aufmerksamkeit dieser zwei recht unauffällig-auffälligen Typen galt und der seit seinen Studentenjahren im politischen Leben gestanden hatte, erkannte schneller als ich, daß man sich keineswegs unbeobachtet im Lande Mussolinis bewegen konnte.“[5] An den damals inhaftierten Kommunisten Max Hoelz, mit dem Toller seit der Kampagne für dessen Freilassung, in der er sich stark engagierte, eine Freundschaft verband, schrieb er nach seiner Rückkehr nach Deutschland:

„Ich habe Dir mit Absicht nicht geschrieben. Man hatte mir wohl das Visum gegeben, aber ich war im Lande des Faschismus auf Schritt und Tritt von Kriminalbeamten bewacht. Wohin ich auch immer kam, schon auf dem Bahnhof wurde ich ‚in Empfang genommen‘.“ (Brief Nr. 713)[6]

Am 20. April, Toller war inzwischen aus Nordafrika nach Italien zurückgekehrt, ließ er die bisherige Reise in einem Brief an Betty Frankenstein Revue passieren:

„Soviel hab ich in diesen drei Wochen gesehen (von denen ich wohl zwölf Tage auf Schiffen und Zügen verbrachte), daß ich beginne, Städte, Menschen, Dinge durcheinanderzuschütteln. Wiedersehen mit Mün[chen], ein Tag in Rom, Neapel, Capri, Pompeji, Girgenti, Syrakus, Tripolis (Afrika wieder!), T[aor]mina.“ (Brief Nr. 711)[7]

In der malerischen Hügelstadt nahe dem Ätna wohnte Toller für einige Tage im Hotel San Domenico. Das ehemalige Dominikanerkloster ist geschichtsträchtig: 1374 gegründet und gestiftet von Damiano Rosso, einem Dominikanermönch und Nachkommen der Familie Altavilla und Fürst von Cerami, der seinen gesamten Besitz, einschließlich des Palastes dem Kloster schenkte, wurde es Ende des 19. Jahrhunderts in ein Hotel umgewandelt. Damiano Rosso verfügte nämlich mit seiner Schenkung, dass das Kloster an die Erben zurückfallen würde, wenn die Mönche es aufgeben würden. Ein halbes Jahrtausend nach der Gründung ließen seine Erben die Zellen der Mönche also in elegante Räumlichkeiten umwandeln, bevor sich ab 1896 gekrönte Häupter ebenso hier einquartierten wie politische Würdenträger und Persönlichkeiten aus Kultur und Literatur wie Richard Strauß, Katherine Hepburn, Greta Garbo, Thomas Mann, John Steinbeck – oder eben Ernst Toller.[8] Bis heute hat das Hotel für Reisende nichts von seiner Faszination eingebüßt und gehört zu den luxuriösesten Adressen Siziliens. 2017 war es Austragungsort des G7-Gipfels, 2021 wurde es als Four Seasons Hotel mit 111 Zimmern und Suiten wieder eröffnet.

Hier also wollte Toller, dem sein Freund Landshoff einen „heimlichen Hang zum Luxus“[9] attestierte, im April 1928 einige Tage bleiben, bevor er die Rückreise nach Berlin antrat – und zumindest eine Begegnung, die er in der sizilianischen Stadt hatte, hat er bestimmt nicht mit anderen „durcheinandergeschüttelt“. Geschildert wird sie von Ludwig Marcuse in dessen Autobiographie Mein zwanzigstes Jahrhundert[10].

Marcuse hielt sich zur gleichen Zeit in Taormina auf. Auf der Reise lernte er Louis Ferdinand von Preußen, den zweitältesten Sohn des Kronprinzen Wilhelm, kennen, mit dem er sich anfreundete und schließlich auch in Sizilien immer wieder zusammentraf. Auf einem der gemeinsamen Spaziergänge trafen Marcuse und sein Hohenzoller Reisekamerad zufällig auf Toller:

„Da stand plötzlich Ernst Toller vor uns. Tableau! Der Zufall ist der beste Stücke-Schreiber. Ich sagte: darf ich zwei gute Freunde von mir bekannt machen: Ernst Toller (weiland Mitglied der Münchner Räte-Republik) – und Lulu (weiland Seine Königliche Hoheit, Prinz Louis Ferdinand von Preußen). Dem jungen Hohenzollern war der Name meines anderen Freundes vage bekannt, er assoziierte wohl: noch röter… gab ihm höflich, freundlich die Hand und dachte wahrscheinlich: lustige Ferien. Das aber dachte der andere ganz und gar nicht. Er war mit seinem Verleger Landshoff (vom Kiepenheuer Verlag) und mit Freund Kesten in Nord-Afrika gewesen – und nun plötzlich in eine Situation geraten, die ihn alarmierte. Nie wieder kam mir im Leben ein so schöner bedingter Reflex vor Augen. Man konnte es Tollers Körper ansehen, wenn er in Kriegszustand ging. Sein Blut floß sichtbar, noch unter der gebräunten Haut. Die Muskeln schwollen bedenklich zu Klumpen, vor allem im Gesicht. Der ganze Mann war ein einziger Ladestock. Ich war sehr betroffen; denn ich hatte ihn sehr gern.“[11]

Wo und wann Toller und Marcuse sich kennenlernten, konnte bis dato nicht ermittelt werden. Der Kontakt, der vermutlich in Berlin entstand – überliefert ist ein einziger Brief Marcuses an Toller aus dem Februar 1934 – intensivierte sich aber wohl spätestens in Sanary-sur-Mer 1936.[12]  

„Lulu sagte, leichthin: ‚Sie würden uns eine große Freude machen, Herr Toller, wenn Sie zum Kaffee kämen.‘ Er kam. Wir lachten nun zu dritt. Er war unter uns der einzige, der politisch dachte. Toller war guter Laune; aber plötzlich stand der blaue Tag voll von schwarzen Wolken. Der deutsche Reichskanzler Hermann Müller hatte den Bau des Panzerkreuzers A in Angriff genommen. Hugenberg, einst Vorsitzender des Krupp-Direktoriums, dann Herrscher über Nachrichten und Filme, war Vorsitzender der deutsch-nationalen Volkspartei geworden. Die Reichs-Osthilfe für verschuldeten Landbesitz in Ostpreußen war als skandalöser Tribut an die östlichen Junger enthüllt worden. Doch war endlich ein großes Buch über den Krieg herausgekommen, von dem man schon kaum noch sprach: der Autor hieß Ludwig Renn… Und wir waren doch so lustig gewesen. Ich brachte Toller auf unsere Terrasse zurück. Er war gerade vom zweitbesten Hotel ins luxuriöseste gezogen: ins Domenico, das alte Dominikaner-Kloster. ‚Herr Toller‘, sagte Lulu, ‚da bleiben Sie ganz in der Tradition unseres Hauses. Da hat mein Großvater vor 20 Jahren auch gewohnt.‘ Toller konnte hinreißend müde lächeln…“[13]

Dieses Zusammentreffen und seine Umstände entbehren nicht einer gewissen Ironie. Es datiert ein Jahrzehnt nach Revolution und Räterepublik; etwa gleich viele Jahre sollten vergehen, bis Toller sich im amerikanischen Exil das Leben nahm. Ludwig Marcuse, der in New York zu Tollers engsten Bezugspersonen zählte, ging nach dessen Tod eine Beziehung mit Christiane Grautoff ein. Louis Ferdinand von Preußen kehrte nach einem längeren Aufenthalt in den USA 1933 nach Deutschland zurück und blieb „Kaiser auf Abruf“. Bis zu seinem Tod 1994 führte er die Familiengeschäfte und war Oberhaupt des Hauses Hohenzollern, dessen Gewaltherrschaft früherer Jahrhunderte Toller nicht vergessen konnte und nicht vergessen wollte. In seinem Essay Carl vom Stein aus dem Jahr 1934 schrieb er: „The Hohenzollern policy of conquest was based upon this despotism of the King over his nobles and of the nobles over the peasants.”[14]

Irene Zanol, Veronika Schuchter, 3.8.2021


[1] Brief Nr. 702 an Max Hoelz, 22.3.1928. In: Ernst Toller: Briefe 1915­-1939, hg. von Stefan Neuhaus, Gerhard Scholz, Irene Zanol, Martin Gerstenbräun, Veronika Schuchter und Kirsten Reimers. Göttingen: Wallstein 2018, S. 717.

[2] Fritz H. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag. Erinnerungen eines Verlegers. Mit Briefen und Dokumenten. Berlin, Weimar: Aufbau, 1991, S. 113.

[3] Landshoff 1991, S. 113.

[4] Vgl. die 1928 erstmals im Tage-Buch publizierte Reisereportage „Ordnung muss sein“. In: TW, 4.1., S. 683.

[5] Landshoff 1991, S. 115.

[6] Brief Nr. 713 an Max Hoelz, 7.5.1928. In: Ernst Toller: Briefe 1915-1939 (siehe Anm. 1), S. 725.

[7] Brief Nr. 711 an Betty Frankenstein, 20.4.1928. In: Ernst Toller: Briefe 1915­-1939 (siehe Anm. 1), S. 722f., hier S. 723.

[8] Zur Geschichte des Hotels vgl. http://www.viaggiarteecucina.it/wordpress/2016/11/il-fascino-della-storia-al-san-domenico-di-taormina/ (abgerufen am 2.8.2021)

[9] Landshoff 1991, S. 116.

[10] Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Wege zu einer Autobiographie. Zürich: Diogenes, 1975.

[11] Ebd. S. 104f.

[12] Vgl. Christiane Grautoff: Die Göttin und ihr Sozialist. Bonn: Weidle: 1996, S. 90ff.

[13] Marcuse 1975, S. 104f.

[14] Carl vom Stein. In: Ernst Toller: Sämtliche Werke. Bd. 4.1: Publizistik und Reden, hg. von Martin Gerstenbräun, Michael Pilz, Gerhard Scholz. und Irene Zanol. Göttingen: Wallstein, 2015, S. 536-543, hier S. 538.