Postkarte Tollers an Lu Geissler, 9.6.1933 (Slg. der ETG)

Sarajevo, Vladislava Skarića 5: Hotel Europa

43°51’30.4″N 18°25’38.9″E

„Liebe Lu“, schrieb Ernst Toller am 9. Juni 1933 aus Sarajevo an die Kassiererin des Züricher Kabaretts „Cornichon“, Lu Geissler, „solcher Schleier würde dir gut stehen und wäre notwendig für deine Aventüren.“ Die Postkarte zeigt die Baščaršija, den Basar im historischen, osmanischen Marktviertel der Stadt, das nur wenige Hundert Meter von Tollers Unterkunft entfernt liegt. Er wohnte im Hotel Europa in der Vladislava Skarića 5, das vom Kaufmann und Politiker Gligorije Jevtanović anstelle einer 1879 bei einem Brand zerstörten einfachen Unterkunft für Reisende erbaut und 1882 eröffnet wurde.[1] Bekannt vor allem für sein Wiener Kaffeehaus im Erdgeschoss, liegt das Hotel an der Ecke, an der das während der Habsburger Monarchie aufgebaute und baulich davon geprägte Stadtviertel rund um den katholischen Dom in den osmanisch-muslimisch geprägten Stadtteil übergeht. Allein durch diese Lage, aber auch durch seinen Namen bringt das Hotel Europa damals wie heute den Geist des Zusammenlebens verschiedener Religionen und Nationen in Sarajevo zum Ausdruck.

Dass Toller sich im Juni 1933 gerade hier aufhielt, ist bezeichnend. Zwei entscheidenden Wendungen in seiner Biographie hängen eng mit der Stadt zusammen. Das Attentat von Sarajevo führte 1914 in den Ersten Weltkrieg, an dem Toller als Kriegsfreiwilliger teilnahm und aus dem er als überzeugter Pazifist zurückkehrte. Knappe zwei Jahrzehnte später saß er nun im „Wiener Café“ oder in seinem Hotelzimmer einige Stockwerke darüber, keine 150 Meter von dem Ort entfernt, an dem der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, am 28. Juni 1914 ermordet wurde, und erledigt seine Post. Dabei sah Toller eine Katastrophe heraufbrechen, die bald halb Europa in Rauch und Flammen aufgehen lassen würde.

Er kam von Ragusa (Dubrovnik) nach Sarajevo, dort hatte er am 11. Kongress des Internationalen PEN-Clubs teilgenommen, der vom 22.-28. Mai 1933 tagte. Sein Auftritt in Ragusa war nicht nur die erste größere und breitenwirksame Rede, die Toller im Exil hielt, sondern markiert auch den Zeitpunkt, an dem er sich im Kampf gegen den Faschismus als einer der Wortführer exponierte. Den deutschen Delegierten gelang es zunächst, „die liberale PEN-Charta zu nutzen, um sich einer Debatte der humanitätsfeindlichen Politik ihrer Oberen zu entziehen,“[2] waren doch „[n]ur Frankreich und Belgien […] als entschiedene Gegner einzustufen; einige Delegationen wie die italienische (mit dem Delegationsleiter Marinetti), holländische und schweizerische waren ohnehin deutschfreundlich oder neutral eingestellt, die österreichische war gespalten, England und die USA suchten sich besonders fair oder jedenfalls abwartend zu verhalten.“[3] Als belgische und französische Autoren dennoch eine Resolution einbrachten, die sich „nun explizit gegen die Kulturpolitik des nationalsozialistischen Deutschland richtete“[4], konnten die deutschen Delegierten durch ihre Drohung, bei einer Diskussion dieses Antrags die Sitzung zu verlassen, zunächst noch etliche Streichungen und Abschwächungen erreichen. Eine öffentliche Debatte sollte mit allen Mitteln verhindert werden. Toller, der als Gast der englischen Delegation als einziger der in Deutschland verfolgten Schriftsteller an der Sitzung teilnehmen konnte, war bereit, „seine angemeldete Rede erst nach Annahme der Resolution zu halten, bzw. der deutschen Delegation am folgenden Tag Fragen zu stellen, wurde aber von Wells [dem Präsidenten des Internationalen PEN] aufgefordert, sofort zu sprechen.“[5]

Als er zu seiner Rede ansetzte, verließ die deutsche Delegation aus Protest geschlossen den Raum.[6] Toller klagte das faschistische Regime in Deutschland an, verlas die Namen – darunter seinen eigenen – all jener Schriftsteller, deren Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt wurden und warf der deutschen Delegation vor, die Vorgänge durch ihr Schweigen zu unterstützen. Er appellierte an die Verantwortung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller:

„Ich wende mich gegen die Methoden der Männer, die heute Deutschland regieren, die aber keine Legitimation besitzen, sich und Deutschland gleichzusetzen. Millionen Menschen in Deutschland dürfen nicht frei reden und frei schreiben. Wenn ich hier spreche, spreche ich mit für diese Millionen, die heute keine Stimme haben. Die Herren berufen sich auf die großen deutschen Geister. Wie sind die geistigen Forderungen Goethes, Schillers, Kleists, Herders, Wielands, Lessings vereinbar mit der Verfolgung von Millionen Menschen? Ich zweifle, ob wir in diesem Europa noch oft die Möglichkeit finden werden, uns zu versammeln und miteinander zu sprechen. Wer sich heute auflehnt, ist gefährdet. Was liegt an uns. Überwinden wir die Furcht, die uns erniedrigt und demütigt. Wir kämpfen auf vielen Wegen, es mag Wege geben, wo wir gegeneinander stehn müssen; aber in uns allen lebt das Wissen um eine Menschheit, die befreit ist von Barbarei, von Lüge, von sozialer Ungerechtigkeit und Unfreiheit.“[7]

„Bei der von Toller formulierten Anklage“, so Ernst Fischer, „handelte es sich um den bis dahin lange Zeit wirkungsvollsten Versuch der exilierten Schriftsteller, die Weltöffentlichkeit über die Vorgänge in Deutschland […] aufzuklären.“[8] Das weltweite Echo der Rede war groß und markiert den Beginn einer Phase der Politisierung des PEN-Clubs ebenso wie jenen einer schier endlos scheinenden Folge von Reden Tollers gegen den Faschismus in Deutschland. Es ist daher kaum anzunehmen, dass Toller im Hotel Europa etwas Ruhe fand, bevor er seine „Weiterreise ins Ungewisse“[9] antrat. Die mediale Berichterstattung über seinen Auftritt riss nicht ab und unter den vielen Artikeln fanden sich nicht nur solche, die die Wichtigkeit von Tollers Auftritt erkannten und lobten, sondern auch zahlreiche Angriffe, auf die er reagieren musste.[10]

Am 8. Juni führte Toller etwa mit Victor Rubčić ein Interview[11] für die in Sarajevo erscheinende Jugoslavenska pošta, in der er seine Sicht auf die Geschehnisse ausführlich darlegte. Ebenfalls aus Sarajevo schickte er einen offenen Brief an die Redaktion der Wiener Allgemeinen Zeitung[12] und kommentierte den PEN-Kongress auf einer Postkarte an Albert Ehrenstein kurz und knapp: „es war notwendig – nur schade, daß die meisten Imbezile waren.“[13] Den kroatischen Publizisten Mirko Kus-Nikolajev bat er noch am 16. Juni brieflich, ihm „eingeschrieben express folgende deutsche Ausgaben meiner Bücher nach Sarajevo Hotel Europa zu schicken, die ich zur Vorlesung […] dringend gebrauche […]“[14], denn in den folgenden Wochen reiste Toller durch Jugoslawien und hielt Vorträge „über die verbrannte deutsche Literatur“[15] in Sarajevo (am 19.6.), Zagreb (am 20. oder 21.6.) und Ljubljana[16], bevor er wieder nach Dubrovnik reiste, um dort weiter an seiner Autobiographie Eine Jugend in Deutschland zu arbeiten.[17]

„Man hat mich überall masslos verwöhnt“, resümiert der Exilant am 1. Juli in einem Brief an seinen Freund Hermann Kesten über seine Lesereise durch Jugoslawien. Und der Journalist Victor Rubčić bestätigt den Erfolg: „Ich habe selten erlebt, daß ein Mann in wenigen Tagen so populär wurde und überall mit solch aufrichtiger Freude begrüßt wurde.“[18]

Das Hotel Europa hatte die schlimmsten Jahre in seiner Geschichte 1933 aber freilich noch vor sich. „Drei Kriege, den Sturz von Monarchie und Sozialismus haben diese Wände bezeugt.“[19] Während der Belagerung Sarajevos, 1992, wurde das Europa, in dem damals geflüchtete Frauen mit ihren Kindern untergebracht waren, aber durch mehrere Granateinschläge schwer zerstört. Erst 2009 wurde es wiedereröffnet. Seitdem trinken Einheimische wie Touristen unter den prächtigen Kronleuchtern wieder bosnischen Kaffee zum Wiener Apfelstrudel oder zur Sachertorte. Und das Europa wurde, so Dževad Karahasan, wieder zum Sinnbild für Sarajevo:

„Indem es den Orient und Mitteleuropa in sich vereint, bündelt dies Hotel wie ein Prisma die diffusen Strahlen dessen, was Sarajevo wirklich ist. Ich weiß, dass es sich nicht sagen lässt, was das ist, der ‚Geist Sarajevos‘ oder die ‚Identität Sarajevos‘; aber es lässt sich ästhetisch, also mit Erfahrung, wahrnehmen – dass man seiner Gewohnheit entsprechend ins Hotel ‚Europa‘ auf ein Stück Kuchen oder ein Eis geht, nicht wegen des Kuchens (der anderswo, Hand aufs Herz, viel besser ist), sondern wegen des Hotels ‚Europa‘, in dem man Sarajevo mit den Fingerkuppen spürt, am Geruch, an etwas Drittem. Man spürt es in sich, als Teil seiner selbst.“[20]

Viennese Café, Hotel Europe, Sarajevo

[1] Marko Plešnik: Sarajevo. Mit Ilidža, Butmir, Rakitnica-Schlucht und den Wintersportgebieten. Berlin: Trescher, 2020, S. 95.

[2] Werner Berthold. Zit. nach: Ernst Fischer: Das Zentrum in der Weimarer Republik. Von der Gründung bis zur Auflösung unter nationalsozialistischer Herrschaft (1923-1933). In: Dorothée Bores, Sven Hanuschek (Hg.): Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Berlin: de Gruyter, 2014, S. 71-132, hier S. 114.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 115.

[6] Vgl. den Bericht des deutschen Delegierten Fritz Otto Busch, TW 4.2, S. 1080f.

[7] Rede auf den Penklub-Kongress [in Ragusa], in: TW 4.1, S. 324-328, hier S. 328.

[8] Dorothée Bores, Sven Hanuschek (Hg.): Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Berlin: de Gruyter, 2014, S. 116.

[9] [David Levi-Dale]: Ein Interview mit Ernst Toller. 40 Jahre später. In: Aufbau. New York, 34 (1973), Nr. 37 vom 14.9., S. 16. (Pilz 1083). Abgedruckt in: TW, 3, S. 498-500, hier S. 498.

[10] Vgl. exemplarisch: Sonka [d. i. Hugo Sonnenschein]: Mein Rechenschaftsbericht über den Pen-Klub-Kongreß in Ragusa. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 3.6.1933.

[11] Victor Rubčić: G. Ernst Toller o Pen-kongresu i o svom stavu. In: Jugoslavenska pošta, Nr. 1223 vom 10.6.1933. (Spalek 1910). Abgedruckt in: TW, 3, S. 496-498.

[12] Brief Nr. 1007 vom 16.6.1933.

[13] Brief Nr. 1005 an Albert Ehrenstein, 9.6.1933.

[14] Brief Nr. 1006 an Mirko Kus-Nikolajev, 16.6.1933.

[15] Brief Nr. 1010 an Hermann Kesten, 1.7.1933

[16] Eine weitere Station war Belgrad, wo es zu einer nochmaligen Begegnung mit dem deutschen Delegierten Hanns Martin Elster kam. In einem Brief an Klaus Mann vom 17. Juli schildert Toller: „Am Ende wollte er in Belgrad, um gut Wetter in Deutschland zu haben, eine Rede auf Hitler halten. Aber obwohl ich, da ich wusste, dass diese Rede zu einem herzhaften Skandal führen würde, erklärt hatte, dass ich ihn ruhig anhören wolle, bekamen die Jugoslawen es mit der Angst zu tun, bedeuteten ihm schon vorher, dass ich nach seiner Rede nicht schweigen würde, und so verliess er, begleitet von den Gesandtschaftsattachés, ein ganzer neuer deutscher Mann, den Saal.“ (Brief Nr. 1017 an Klaus Mann, 17.7.1933)

[17] Vgl. den Brief Nr. 1012 an Upton Sinclair vom 2.7.1933.

[18] Victor Rubčić: G. Ernst Toller o Pen-kongresu i o svom stavu. In: Jugoslavenska pošta, Nr. 1223 vom 10.6.1933. (Spalek 1910). Abgedruckt in: TW, 3, S. 496-498, hier S. 498.

[19] Chris Tomas: Haus der Geschichte. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 48 vom 28.11.2019. Online abrufbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/hotel-europa/hotelipp-sarajevo-hotel-europe-88048 (12.1.2020).

[20] Dževad Karahasan: Tagebuch der Aussiedlung. Aus dem Serbokroatischen von Klaus Detlef Olof. Klagenfurt, Salzburg: Wieser, 1993., S. 94.

Irene Zanol, 14.1.2020