Ellis Island vor der Skyline von Manhattan

Ellis Island, New York City

40°41’58.2″N 74°02’21.8″W

„‚Why should America dig into my past?‘ he asked.“
Zu Ernst Tollers Einreise in die USA 1929

Dieser Tage sind die USA besonders stark im Fokus. Zeit, sich daran zu erinnern, dass Amerika jahrzehntelang der Traum von Millionen armer Europäer:innen war. Der Zugang zu diesem Traum war Ellis Island. Ernst Tollers Einreise 1929 wurde hier gestoppt und erst nach einem Verhör durch die Einwanderungskommission wurde seinem Antrag auf Einreise stattgegeben.

Heute legen wieder mehrmals stündlich Schiffe auf Ellis Island, einer Insel im Hafengebiet bei New York City unweit der Freiheitsstatue, an. Doch anders als zwischen 1892 und 1954, als etwa 12 Millionen Immigrant:innen hier ankamen und den Einwanderungsprozess samt medizinischer Untersuchung abwarten mussten, sind es heute hauptsächlich Tourist:innen und Geschichtsinteressierte, die die Gedenkstätte besuchen. Seit 1990 beherbergen die historischen Räumlichkeiten das Ellis Island Museum of Immigration, das sich der Geschichte der Einwanderung in die Vereinigten Staaten widmet.

„Mr. Toller Arrives“. Ausschnitt eines Zeitungsartikels (Näheres nicht ermittelt), [Sept. 1929]. Das Foto erschien in mehreren US-amerikanischen Zeitungen, u. a. im Daily Sentinel (New York), 1.10.1929, S. 10.

Toller reiste ab dem 17. September auf der „Reliance“ von Hamburg nach New York, von wo aus er eine durch Ludwig Lore, den Herausgeber der New Yorker Volkszeitung und Vorsitzenden des sozialistischen Verbands internationaler Arbeiter organisierte Vortragsreise durch die USA und Mexiko antreten sollte. Das Schiff, auf dem er sich für 300 Dollar eine Kajüte gemietet hatte (vgl. Brief Nr. 844 an Ludwig Lore), fuhr am 26. September, also knapp 10 Tage später, in den Hafen von New York ein. „Als die andern Passagiere der Freiheit zuwinkten“, berichtet Toller später in Quer durch, „winkte mir ein Einwanderungsoffizier zu.“[1]

Er hatte es geahnt, schrieb er doch am 30. August 1929, noch bevor die „Reliance“ in See stach, aus Berlin an Lore: „Lieber Genosse Lore, […] Ich fahre mit dem Dampfer ‚Reliance‘ von der Hapag am 17. September von Hamburg fort. Sie werden wohl ersehen können, wann das Schiff genau in New York eintrifft. Es wäre notwendig, dass Sie am Quai sind. Vielleicht könnten Sie auch meinen Übersetzer, Louis Untermeyer, bitten, dort zu sein. Alfons Goldschmidt sagte mir, ich müsse mit der Möglichkeit rechnen, von der Behörde in New York zurückgewiesen zu werden, und dann wäre es gut, wenn irgendwelche ‚prominenten‘ Menschen mich erwarten.“ (Brief Nr. 860)

Zunächst wurde Toller noch eine Nacht auf dem Schiff festgehalten. Benjamin M. Day, Commissioner of Immigration, erklärte dem Brooklyn Eagle, dass man nach einer Anweisung handelte, die aus Washington kam.[2] Toller fiel in die Kategorie jener Ausländer:innen, die in der Vergangenheit eine Freiheitsstrafe haben verbüßen müssen und wurde aus diesem Grund nicht gleich in das Land gelassen. „Although Toller was a conspicuous German revolutionist“, meldete der Manchester Guardian und vermutete „the officials apparently felt that he did not come under any of the provisions of this clause.“[3] „Am anderen Morgen“, so Toller, „fuhr ich, zusammen mit einem blinden Passagier und mit einem Mädchen, das man nicht hereinlassen wollte, weil sie, unverheiratet, schwanger war, und andern Zurückgewiesenen nach Ellis Island. Detektive begleiteten uns. Als ich mich mit dem blinden Passagier, einem jungen Burschen aus Prag, unterhalten wollte, wurde ich angeschnauzt und weggeschoben. Das Motorboot überquerte den Hudson, wir sahen die graue Insel mit ihren vergitterten Kasernen aus roten Ziegelsteinen. Was hat sich hier schon abgespielt an menschlicher Wirrnis. Nicht umsonst heißt sie: ‚Träneninsel‘. Durch kahle Räume, endlose Korridore, vorbei an Polizisten und Beamten, wurde ich zum Verhör geführt.“[4]

Betritt man heute das Gebäude über die Great Hall (auch Registry Room) und besucht die Ausstellung „Through America’s Gate“, die Schritt für Schritt nachvollziehbar macht, wie der Einreiseprozess vor sich ging, folgt man wohl diesem Weg und gelangt u. a. in den restaurierten Anhörungssaal, der den Besucher:innen im Erscheinungsbild von 1911 präsentiert wird.

„Ich muß einige Minuten warten. Zwei weinenden polnische Frauen, die es nicht fassen können, bedeutet der Dolmetscher, daß sie nach Europa zurückgeschickt würden. Ich stehe vor der Kommission. Der Vorsitzende, ein einarmiger Inspektor in Uniform, zwei Beisitzer.“[5]

Im Verhör gab Toller an, nach wie vor Sozialist zu sein und in seinen Vorträgen über die Politik in Deutschland zu sprechen, nicht aber über amerikanische Politik. „Some of the questions asked him by the special board of Inquiry and his answers he said, were: ‚Are you still in favor of political assassination?‘ ‚No, I never have been.‘ ‚Are you still a Socialist?‘ ‚Yes, I am.‘ ‚Are you going to talk about politics in the United States?‘ ‚No, I am not concerned with politics in the United States. I don’t know anything about them.'“[6] Schließlich stellte der Untersuchungsausschuss fest, dass das „Vergehen, für das Toller eine fünfjährige Freiheitsstrafe erhalten hat, politischer Natur war“[7] und genehmigte ihm in der Folge die Einreise und einen Aufenthalt für die Dauer von drei Monaten „ohne daß Bürgschaftsstellung verlangt wurde.“[8]

Um 12.15 Uhr konnte er die Insel mit einer Fähre nach Manhattan verlassen. Ludwig Lore war umsichtig in der Planung der Reise Tollers: „Ihre ersten Vorträge“, so teilte er ihm am 5. Juli mit, „werden um den 1. Oktober in New York beginnen, sodass Sie ein paar Tage der ruhigen Sammlung und des Vertrautwerdens mit dieser Riesenstadt haben, ehe Sie mit beiden Füssen in die Arbeit hineinspringen.“[9]

Und das tat Toller schließlich. Bis zu seiner Abreise Mitte Dezember führte ihn seine Vortragstournee zu über 30 Redeauftritten in den USA und Mexiko. Die Reise, die zunächst für die Frühlingsmonate 1929 geplant war und dann auf den Herbst verschoben wurde, wurde vom sozialistischen Verband internationaler Arbeiter organisiert und finanziert: „Sie sind, verehrter Genosse Toller“, schrieb Ludwig Lore am 27. Dezember 1928 an Toller, „von allen Deutschen der einzige, der nach Parteistellung und literarischer Bedeutung in den Ver. Staaten so wirken kann, wie wir das für den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen Bewegung hier brauchen.“[10]

Irene Zanol, 11.11.2020

Mehr über das Museum of Immigration finden Sie hier.
Das Titelzitat von Ernst Toller stammt aus: The Evening Star (Washington), Nr. 31.195 v. 27.9.1929, S. 1.


[1]     Ernst Toller: Quer durch (Ankunft in Amerika). In: Ders.: Publizistik und Reden. Bd. 4 der Sämtlichen Werke Tollers in 5 Bänden. Hg. von Martin Gerstenbräun, Michael Pilz Gerhard Scholz und Irene Zanol. Göttingen: Wallstein, 2015, S. 5-7, hier S. 5.

[2]     Toller Admitted to U.S. for 3 Months After Hearing. In: The Brooklyn Eagle (New York), 27.9.1929.

[3]     Ernst Toller at Ellis Island. Suspected Ineligible by Imprisonment. In: Manchester Guardian, Nr. 25921 v. 28.9.1929.

[4]     Ernst Toller: Quer durch (Ankunft in Amerika), S. 6.

[5]     Ebd.

[6]     Toller Admitted to U.S. for 3 Months After Hearing. In: The Brooklyn Eagle (N. Y.), 27.9.1929. Vgl. dazu auch die von Toller wiedergegebenen Fragen und Antworten in Quer durch (Ankunft in Amerika).

[7]        Tollers Festhaltung ein Mißverständnis! Landung nach langem Verhör gestattet. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 455 v. 28.9.1929.

[8]     Ebd.

[9]     Bislang unpublizierter Brief von Ludwig Lore an Ernst Toller, 5. Juli 1929. AdK, Berlin, Ernst-Toller-Sammlung, Nr. 182.

[10]    Ebenfalls bislang unpublizierter Brief von Lore an Toller, 27. Dezember 1928. AdK, Berlin, Ernst-Toller-Sammlung, Nr. 182.