Hoppla, wir leben noch!

F.A.Z. vom 12. Dezember 2014 von Jakob Hessing

 

Ernst Toller war Soldat, Politiker, Häftling, der wohl berühmteste Dramatiker der Weimarer Republik und ein Garant für Theaterskandale: Jetzt liegen seine Werke erstmals in einer kritischen Gesamtausgabe vor. Sie erlaubt einen spannenden Einblick in die kulturgeschichtlichen Folgen des Ersten Weltkriegs.
Nicht zufällig im ausklingenden Gedenkjahr zum Ersten Weltkrieg bringt der Wallstein Verlag das Werk Ernst Tollers (1893 bis 1939) in einer kritischen Studienausgabe heraus. Wie viele seiner Generation hat auch Toller in diesem Krieg die existentiellen Grunderfahrungen gemacht, ohne die sein Werk nicht entstanden wäre. Er war der wohl berühmteste Dramatiker der Weimarer Republik, aber er war auch ein Politiker und ein begnadeter Redner. Er gehörte zur Führung der Münchner Räterepublik und musste dafür bis 1924 in bayerischer Festungshaft büßen. Er war ein Jude, der nach kurzen Jahren der Freiheit schon vor der Machtergreifung ins Exil ging. In Amsterdam und Moskau, in London und Amerika kämpfte er gegen den Faschismus, solange seine Kräfte reichten. In New York - zermürbt, aber nicht gebrochen - wählte er im Mai 1939 den Freitod.
Schon dieser kurze Überblick macht die unlösbare Verbindung sichtbar, die Literatur und Geschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Tollers Texten eingegangen sind. Sein Werk zeigt ein doppeltes Antlitz, und das internationale Herausgeberteam - fünfzehn ausgewiesene Forscherinnen und Forscher verschiedener Universitäten in Europa und Amerika - arbeitet es auf vorbildliche Weise heraus. In fünf umfangreichen Bänden legen sie erstmals das Gesamtwerk vor, neben den Dramen und autobiographischen Schriften auch Tollers Lyrik und Prosa, seine Hörspiele und Filmarbeiten.
Den Texten sind ausführliche Anhänge beigegeben, die sie literarisch und historisch erschließen. Denn so, auf zwei Ebenen, müssen sie gelesen werden: als Literatur und zugleich als Geschichte. In Deutschland hat ein bürgerliches Kulturverständnis solche Lesart lange verstellt, es hat versucht, die "schöne" Literatur von der unschönen Geschichte zu trennen, Tollers Werk aber ist ohne seinen historischen Entstehungszusammenhang kaum zu verstehen. Seinen traumatischen Ursprung hat es im Ersten Weltkrieg; es entsteht in einer Zeit, die heute "Zwischenkriegsjahre" heißt; und es zeichnet
die Umrisse einer Katastrophe nach, deren Ausmaß Toller nicht mehr erleben musste, das er aber schärfer vorausgesehen hat als die meisten seiner Zeitgenossen.
Wie sehr Tollers Werk seine Zeit reflektiert und zugleich in dichterischen Bildern vermittelt, zeigt schon sein erstes Drama "Die Wandlung". Gedruckt und aufgeführt wurde es im Herbst 1919, als die Räterepublik bereits niedergeschlagen und Toller verhaftet war. Seine Entstehung aber geht ins Jahr 1917 zurück, es beruht nicht auf politischen Erfahrungen in München, sondern auf Tollers Kriegserlebnissen. In visionären Szenen gestaltet es die Wandlung eines deutschen Juden, der sich an der Front das bislang verwehrte Heimatrecht erkämpfen wollte. Jetzt wird er zum Kriegsgegner, der im ewigen Frieden einer geeinten Menschheit sein neues Ideal gefunden hat.
"Die Wandlung", ein Stationendrama mit unverhohlen messianischem Appell, hat Theatergeschichte geschrieben. Es ist das expressionistische Stück par excellence, und seine Premiere hat nicht nur die Berliner Tribüne als Avantgardetheater etabliert, sie hat auch Fritz Kortner in der Hauptrolle zum sensationellen Start seiner Karriere verholfen. Doch als das Stück Furore machte, waren die Hoffnungen, denen es Ausdruck gab, schon an der historischen Wirklichkeit zerschellt. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Während der Dramatiker Toller gefeiert wurde, saß er bereits in Haft. Er hat keine einzige Aufführung seiner ersten Stücke gesehen.
Da die Jahre im Gefängnis ihn an politischer Aktivität hinderten, wurden sie zu seiner produktivsten Schaffensperiode. Noch in der Untersuchungshaft, in wenigen Tagen nur, schrieb er den Entwurf zu seinem zweiten Stück, "Masse Mensch". Hier finden seine Erfahrungen aus der Münchner Zeit dann ihren Niederschlag.
Toller ist immer ein Idealist geblieben, der sich der Diktatur des Politischen widersetzte. In den Tagen der Räterepublik machte er sich damit die Kommunisten zu Feinden, und noch Jahrzehnte später hat das seine Rezeption in der DDR erschwert. In "Masse Mensch" wird spürbar, wie er die praktischen Grenzen des Idealismus zu erkennen beginnt. Die beiden Worte des Titels stehen für die Macht totalitärer Politik und ihre Gegenposition: Der Machtpolitiker manipuliert den Menschen als lenkbare Masse; seine Gegenspielerin - in Tollers Stück nicht zufällig eine Frau - sucht den Menschen als Individuum zu schützen.
Die Editoren haben eine Studienausgabe im besten Sinne des Wortes erstellt. In den Anhängen geben sie Auskunft über Entstehung und Textgeschichte der Stücke, schreiben ausführliche Stellenkommentare, dokumentieren frühe Aufführungen und ihre Rezeption. Darüber hinaus aber bieten sie dem Leser noch mehr: Jeder Anhang wird durch ein fundiertes Nachwort abgerundet, das den jeweiligen Text nicht nur als zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch als literarisches Werk in seiner Tiefenstruktur offenlegt.
Beispielhaft sind die Hinweise, die das Nachwort zur "Wandlung" enthält. Um der messianischen Botschaft des Stücks Überzeugungskraft zu geben, hat Toller es auf den beiden Ebenen der Wirklichkeit und des Traumes angelegt und sie alternierend auf Vorder- und Hinterbühne verteilt. Die Herausgeber gehen auf die Logik dieses Verteilungsmusters ein und zeigen in einer graphischen "Tabelle zur Segmentierungsstruktur des Dramas", wie stringent Toller es in den dreizehn Bildern des Stückes eingehalten hat. Beispielhaft ist ihr editorischer Ansatz deshalb, weil er ein Mittelmaß von deskriptiver und analytischer Deutung verwendet und dem Leser dabei keine vorgefasste Interpretation aufzwingt, sondern ihm nur hilft, anhand der objektiv nachweisbaren Form des Werkes auch dessen Inhalt besser zu verstehen.
Für die Frau, die Toller in "Masse Mensch" zur Fürsprecherin des Menschen macht, weisen die Editoren auf ein historisches Vorbild hin. Sie hieß Dr. Sarah Sonja Lerch und stammte wie viele Intellektuelle auf der deutschen Linken aus dem Bildungsbürgertum. Toller hatte sie 1918 als Streikführerin der Münchner Munitionsarbeiter kennengelernt und übernahm Elemente ihrer Biographie, etwa die Tatsache, dass es der eigene Ehemann war, der sie denunzierte. Ein entscheidendes Detail aber änderte Toller ab: Während die Streikführerin bald nach ihrer Verhaftung Selbstmord beging, gibt Toller ihr in seinem Stück einen anderen Tod - sie wird hingerichtet, stirbt nicht als autonomer Mensch, sondern als Opfer eines totalitären Unrechtssystems.
Tollers Werk ist im Schatten tiefer historischer Umbrüche entstanden, und zahlreiche Informationen in den Anhängen ermöglichen es dem Leser, den Einfluss der Ereignisse auf sein künstlerisches Schaffen genauer zu bestimmen. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis schrieb er "Hoppla, wir leben!", und die Editoren verankern das Stück nicht nur in seiner Werkbiographie, sondern auch in der Bühnengeschichte der Weimarer Republik. Mit ihm eröffnete Erwin Piscator 1927 sein Berliner Theater am Nollendorfplatz und hat es nicht nur inszeniert, sondern teilweise auch umgeschrieben. Die Hauptfigur - ein vom Verhalten seiner einstigen Kameraden enttäuschter Revolutionär - begeht am Ende Selbstmord, Toller aber hatte einen anderen, positiveren Schluss geplant. In der Forschung haben die verschiedenen Fassungen Verwirrung gestiftet, und das Nachwort konzentriert sich auf Tollers ursprüngliche Absicht, zu der er sich später, als er sich von Piscator gelöst hatte, wieder bekannte.
Schon 1923, im letzten Jahr seiner Haft, war das Stück "Hinkemann" auf die Bühnen gekommen und hatte eine Reihe von Theaterskandalen ausgelöst. Aus dem Krieg kehrt der deutsche Arbeiter Eugen Hinkemann impotent zurück, und in einem schwachen Augenblick lässt seine Frau sich von einem anderen Mann verführen. Als sie sieht, wie Hinkemann sich auf dem Jahrmarkt heimlich als rattenfressender Muskelprotz verdingt, um sie in den schweren Nachkriegsjahren zu ernähren, gesteht sie ihm ihre Untreue und zugleich ihre tiefe Liebe zu ihm. Er aber kann ihr nicht verzeihen und treibt sie damit in den Selbstmord.
Man braucht kein historisches Wissen, um Tollers Ehedrama zu verstehen, doch zeigen die Editoren, wie kontrovers auch dieses Stück rezipiert wurde. Die Berliner Volksbühne lehnte es ab, weil ihr das
Thema der Impotenz zu heikel war. In mehreren Städten sprengten nationalistische Störtrupps die Premieren und verhinderten weitere Aufführungen. Der Kritiker Herbert Ihering empfand es als "rationale Banalität", Joseph Roth als "Anfang einer neuen Literatur". Und auch die Forschung tat sich schwer damit, es literarhistorisch an der Grenze von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit einzuordnen.
Auf den ersten Blick gestaltet Toller hier eine existentielle, gleichsam zeitlose Situation. An ihr zeigt sich indessen, dass es eine reine Anthropologie, ein von der Geschichte unberührtes Menschenbild, gar nicht geben kann. Das Unglück der Eheleute ist nicht nur eine menschliche, sondern auch eine historische Tragödie. Der Krieg ist ihr Grund und gleichzeitig Folge jener Unversöhnlichkeit, die im Falle eines impotenten Jahrmarktshelden zum Selbstmord seiner Frau, auf universaler Ebene zum Tod von Millionen führt.
Am Ende des Jahres, das der Erinnerung an die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet war, ist die kritische Studienausgabe Ernst Tollers ein dankenswertes Unternehmen. Zum ersten Mal liegt sein Werk jetzt lückenlos vor, und eine Fülle von Materialien - unter anderem auch die zahlreichen Selbstaussagen, die Toller zu seinem Werk gemacht hat - gibt dem Leser einen Einblick in die kulturgeschichtlichen Folgen des Jahres 1914.
JAKOB HESSING.
Ernst Toller: "Sämtliche Werke". Kritische Ausgabe. Hrsg. von Dieter Distl, Martin Gerstenbräun u. a. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 5 in 6 Bdn., zus. im Schmuckschuber 4304 Seiten, 39 Abb., 289.- [Euro].


"Hoppla, wir leben noch!", F.A.Z. vom 12.12.2014 von Jakob Hessing

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